Neueste versciherungsrechtliche OGH-Judikatur
| 29. April 2019 | Recht
Neueste versciherungsrechtliche OGH-Judikatur
Der Oberste Gerichtshof hat in der nachfolgend in Kurzform dargestellten Entscheidung neuerlich zu dem Recht auf Einsichtsgewährung in medizinische Gutachten Stellung genommen.
7 Ob 186/17d vom 24.5.2018 – Recht auf Gutachtenseinsicht:
Sachverhalt:
Die Versicherungsnehmerin klagte ihren Unfallversicherer auf Übersendung von Kopien medizinischer Gutachten gegen Aufwandersatz. Die Klägerin hatte bei der beklagten Versicherungsgesellschaft eine Unfallversicherung abgeschlossen und erhielt daraus aufgrund eines Unfalls Zahlungen in erheblicher Höhe. Die Klägerin verfügte bei einem anderen Versicherer über eine weitere Unfallversicherung. Dieser zweite Versicherer hatte zur Begutachtung der Unfallfolgen bei einem Sachverständigen mehrere Gutachten (insgesamt 5) beauftragt. Diese Gutachten waren „zum Teil“ „Unterlage“ für die Versicherungsleistung der beklagten Versicherung (die Zitate wurden in der OGH-Entscheidung offensichtlich wörtlich aus den Feststellungen der Untergerichte entnommen). Die Klägerin erhielt von der Beklagten nur zwei der insgesamt fünf Gutachten.
In der Folge kam es zu einem Strafverfahren gegen die Klägerin wegen des Verdachts des schweren Betruges. Im Zuge des Strafverfahrens forderte der Vertreter der Klägerin von der Beklagten wiederholt die Übermittlung der fehlenden drei Gutachten. Nicht festgestellt werden konnte, dass diese drei Gutachten bei der beklagten Versicherung vorhanden waren. Nicht festgestellt konnte ferner, ob diese Gutachten auch als Grundlage für die Bemessung der Versicherungsleistungen der Beklagten an die Klägerin dienten.
Entscheidung:
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung, ebenso der OGH. Dieser nahm allerdings in der Begründung wesentliche Klarstellungen vor, einerseits zu der Frage, welche Gutachten vom Versicherer herauszugeben sind und andererseits zur Beweislast. Die beklagte Versicherung wandte insbesondere ein, dass sämtliche Gutachten Teil der strafbehördlichen Akten wären und die Klägerin dort hätte Einsicht nehmen können. Sie wandte ferner ein, dass sie selbst die Gutachten nicht in Auftrag gegeben hätte und daher nicht passiv legitimiert sei. Die Klägerin hätte die Unterlagen ohnehin bereits erhalten und die Gutachten befänden sich gar nicht in den Händen des beklagten Versicherers. Der Versicherer sei ferner nur verpflichtet, die Herstellung von Kopien zu ermöglichen, nicht jedoch Kopien zu übersenden.
Der OGH führte dazu aus, dass es nicht darauf ankomme, wer die Gutachten beauftragt habe. Nach den Gesetzesmaterialien sei Sinn des Einsichtsrechts, dass der Versicherungsnehmer über die Entscheidungsgrundlagen des Versicherers möglichst nicht im Unklaren gelassen werden sollte. Von einer weitgehenden Offenlegung der Entscheidungsgrundlagen des Versicherers sei nicht zuletzt eine streitabschneidende Wirkung zu erwarten, weil der Versicherungsnehmer unter diesen Voraussetzungen die Erfolgsaussichten einer allfälligen Prozessführung besser beurteilen könne. Es sei vom Gesetzgeber davon abgesehen worden, das Einsichtsrecht auf solche Gutachten zu beschränken, die der Versicherer zur Prüfung seiner Deckungspflicht im Versicherungsfall eingeholt habe. Der Versicherungsnehmer solle etwa auch in Gutachten Einsicht nehmen dürfen, die – aufgrund einer ärztlichen Untersuchung – im Zuge einer Antrags- bzw. Risikoprüfung eingeholt worden sein.
Auch von dritter Seite veranlasste, in der Folge dem Versicherer zur Verfügung gestandene Urkunden könnten für diesen eine maßgebliche Entscheidungsgrundlage sein, an deren Offenlegung dem Versicherungsnehmer bzw. dem Versicherten ebenfalls ein beachtliches Interesse zuzubilligen sei. Daraus folge als Zwischenergebnis, dass das Einsichtsrecht nicht auf ärztliche Gutachten beschränkt ist, die der betreffende Versicherer selbst beauftragt hat.
Die Vorinstanzen hatten ihre Entscheidungen unter anderem darauf gestützt, dass im Verfahren offen geblieben sei, ob die beklagte Versicherung die geforderten Gutachten tatsächlich zur Grundlage ihrer Entscheidung gemacht hätte.
Dazu führte der OGH aus, dass dieses Argument nicht relevant ist. Klarzustellen sei, dass das Einsichtsrecht die Entscheidungsgrundlage des Versicherers – insgesamt – offenlegen solle und daher bereits dann greife, wenn das betreffende Gutachten dem Versicherer für die zu treffende Beurteilung zur Verfügung gestanden sei. Es komme nicht darauf an, ob der Versicherer das Ergebnis des Gutachtens als taugliche Stütze für seinen Rechtsstandpunkt übernommen habe. Andernfalls könnten dem Versicherten gerade jene Gutachten vorenthalten werden, die dessen Anspruch stützen und seine Rechtsverfolgung fördern könnten. Die hier gegenständlichen Gutachten seien zumindest mögliche Beurteilungsgrundlage für die Beklagte gewesen und daher herauszugeben.
Das Klagebegehren scheiterte allerdings an einem anderen Umstand, nämlich an jenem, dass der beklagte Versicherer behauptete, die Gutachten würden ihm nicht oder nicht mehr vorliegen. Der OGH führte dazu aus, dass die Klägerin, welche die Gutachtenseinsicht begehre, grundsätzlich dafür beweispflichtig sei, dass die Beklagte über jenes Gutachten verfügt, das eingesehen werden solle. Der vorliegende Fall betreffe nicht ein im Auftrag des beklagten Versicherers erstelltes Gutachten, sondern ein Fremdgutachten. In diesem Zusammenhang sei auch der Anscheinsbeweis nicht zulässig. Es reiche auch nicht, dass sich die Beklagte die von der Klägerin angesprochenen Gutachten allenfalls beschaffen könnte.
Kommentar:
Das gegenständliche Urteil des OGH schafft in der praxisrelevanten Frage, in welche medizinischen Gutachten dem Versicherungsnehmer bzw. Versicherten vom Versicherer Einsicht zu gewähren ist, wichtige Klarstellungen.
Der Versicherer hat demnach nicht nur medizinische Gutachten (in Kopie) zu übermitteln, welche von ihm selbst in Auftrag gegeben wurden, sondern sämtliche medizinische Gutachten, welche ihm zur Verfügung stehen. Diese Pflicht besteht unabhängig davon, ob die Gutachten tatsächlich Beurteilungsgrundlage für die Ausmittlung der Versicherungsleistung waren oder nicht. Medizinische Gutachten, die der Versicherer selbst beauftragt hat, sind ohnehin herauszugeben. Solche, die er nicht selbst beauftragt hat, allerdings nur dann, wenn sie ihm tatsächlich vorliegen. Für letzteren Umstand ist der Versicherungsnehmer beweispflichtig. Dass der Versicherer Gutachtenskopien gegen Aufwandsersatz nicht nur in den eigenen Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen bzw. zu ermöglichen, sondern auch an den Versicherungsnehmer zu übersenden hat, wurde bereits in 7 Ob 133/01m und nunmehr auch in der gegenständlichen Entscheidung neuerlich klargestellt.
Nach der zum entscheidungsrelevanten Zeitpunkt geltenden Rechtslage war das Einsichtsrecht noch in § 11a Abs 4 VersVG geregelt. Diese bis 30.9.2012 geltende Rechtslage entspricht der derzeitigen Bestimmung des § 11c Abs 2 VersVG. In der neuen Bestimmung wurde lediglich der Anspruch des Versicherungsnehmers bzw. des Versicherten darauf geregelt, dass ihm gegen Aufwandersatz auch Abschriften der Gutachten zur Verfügung zu stellen sind.
OGH-Entscheidungen (und teilweise auch Entscheidungen von Untergerichten) sind über das Internet unter www.ris.bka.gv.at/jus abrufbar.
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