Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
| 18. Juni 2020 | Recht
Im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) findet sich unter § 205 Abs. 1 für die Bemessung der Versehrtenrente folgender Gesetzestext: „Die Versehrtenrente wird nach dem Grad der durch den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit herbeigeführten Minderung der Erwerbsfähigkeit bemessen.“ Diesen Ausführungen folgend handelt es sich bei der Minderung der Erwerbsfähigkeit um einen rechtlichen Begriff, der allerdings vom Gesetzgeber nicht genau definiert wird.
Rechtsprechung und Gerichtspraxis
Die Rechtsprechung betont, es handelt sich dabei um die Beeinträchtigung der Fähigkeit des Versicherten, sich unter Ausnützung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten im gesamten Bereich des wirtschaftlichen Lebens – umfasst also auch selbständige Tätigkeiten - bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Dabei sei auch die Fähigkeit des Versicherten zu berücksichtigen, sich neue Fähigkeiten und Kenntnisse anzueignen und in ihm bisher fremden Berufen zu arbeiten. Bei der Ermittlung der Minderung der Erwerbsfähigkeit seien zwei Faktoren von Bedeutung:
■ der medizinisch festzustellende Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens durch die Folgen des Versicherungsfalles und
■ der Umfang der dem Verletzen (Erkrankten) dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens.
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit ist somit anhand der Einsatzfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt zu beurteilen, einen Berufsschutz wie in der gesetzlichen Pensionsversicherung gibt es nicht.
Die Gerichtspraxis zeigt allerdings, dass sich die Rechtsprechung für eine vereinfachte Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund von Erfahrungswerten (Richtwerten) entschieden hat, die im Verfahren in ständiger Übung verwendet werden, bei denen nach Ansicht des OGH auch die Einsatzmöglichkeiten am Arbeitsmarkt bereits mitbewertet wurden.
Objektiv-abstrakte Betrachtungsweise
Die Praxis vergleicht die Erwerbsfähigkeit eines Leistungswerbers vor und nach dem Unfall/der Berufskrankheit hinsichtlich der verbliebenen Leistungsfähigkeit, wobei diesem Vergleich eine objektiv-abstrakte Betrachtungsweise zugrunde zu legen ist. Die abstrakt beurteilte individuelle Erwerbsfähigkeit des Versicherten vor dem Unfall wird rechnerisch mit 100% bewertet; ihr wird als Vergleichswert die verbliebene Restarbeitsfähigkeit gegenübergestellt. Die Differenz ergibt die Minderung der Erwerbsfähigkeit.
Es wird demnach nicht geprüft, ob eine Weiterarbeit im bisherigen Beruf noch möglich ist oder ob mit dem Personenschaden ein wesentlicher Einkommensverlust verbunden ist. Grundlage der Feststellung ist vielmehr langjähriges Erfahrungswissen von medizinischen Sachverständigen, das sich in Rententabellen („Glieder- und Knochentaxen“) niedergeschlagen hat, welche zwar rechtlich unverbindlich sind, dessen ungeachtet aber von den Gerichten als Entscheidungshilfen herangezogen werden.
Die abstrakte Schadensberechnung hat zur Folge, dass bei Versehrten, die trotz ihrer körperlichen und/oder psychischen Beeinträchtigung weiterarbeiten, diese Weiterarbeit bei der Feststellung des Ausmaßes der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht berücksichtigt. Die Rente wird trotz Beschäftigung ungekürzt weiterbezogen. Das bis zum Lebensende, unabhängig davon, ob eine Pension anfällt oder nicht.
Abweichungen
Der OGH weicht von den medizinischen Einschätzungen nur in Ausnahmefällen ab, wenn im Einzelfall nicht auf gesicherte Erfahrungswerte zurückgegriffen werden kann oder bei unbilligen Härtefällen. Ein derartiger Härtefall wäre beispielsweise, wenn der Versehrte über eine spezialisierte Berufsausbildung verfügt, die eine anderweitige Verwendung gar nicht zulässt oder in weit größerem Ausmaß einschränkt als in durchschnittlichen Fällen mit vergleichbaren Unfallfolgen.
Würdigung
Die Eigenart der sozialversicherungsrechtlichen Abgeltung bei Arbeitsunfallfolgen und Berufskrankheiten besteht im Gegensatz zum zivilrechtlichen Haftpflichtverfahren darin, dass bei der Entschädigung in aller Regel nicht auf individuelle Gegebenheiten (Alter, Beruf Stand usw.) Rücksicht genommen wird, sondern alle Versicherten für ein und dieselbe Verletzung dieselbe Minderung der Erwerbsfähigkeit erhalten sollen. Auch auf den Beruf wird nicht Bezug genommen, die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit bezieht sich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Außerdem wird der Versicherte durch die Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation in die Lage versetzt, am allgemeinen Arbeitsmarkt teilzunehmen.
Durch die objektiv-abstrakte Betrachtungsweise und den Einsatz der Rententabellen soll das Verfahren vereinfacht und beschleunigt werden. Es handelt sich dabei um eine Gratwanderung zwischen der Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit und der allgemein nachvollziehbaren Gleichbehandlung.
Bei einer berufsbezogenen oder die Lebensumstände berücksichtigenden Einschätzung müsste jede Änderung der beruflichen Tätigkeit oder der Lebensumstände im Laufe des Lebens neu beurteilt und eingeschätzt werden. Dies ist bei der Masse der Entschädigungsfälle kaum durchführbar. Der Gesetzgeber hat daher lediglich bei der Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit, die Einfluss auf die körperliche Leistungsfähigkeit im Arbeitsprozess hat, eine Nachuntersuchung vorgesehen.