Bereicherungsrechtliche Rückabwicklung bei Spätrücktritten LV – 7Ob 185/21p
| 27. Oktober 2022 | Recht
Der OGH kommt zu der Erkenntnis, dass § 176 Abs 1 VersVG idgF (BGBl I 2018/51) insoweit als unionsrechtswidrig zu qualifizieren ist, als er bei einer kapitalbildenden Lebensversicherung für einen Rücktritt nach Ablauf des fünften Jahres nach Vertragsabschluss und bei Kündigung des Vertrags dieselben rechtlichen Wirkungen vorsieht.
Sachverhalt
Die Klägerin ist Verbraucherin und schloss mit der Beklagten im Jahr 2008 eine kapitalbildende Lebensversicherung ab. Sie erhielt weder eine Kopie des Versicherungsantrags noch das Beratungsprotokoll. Sie erhielt auch die verbindliche Zusatzerklärung nicht, in der sich eine Belehrung über das Rücktrittsrecht des Versicherungsnehmers findet. Mit Schreiben vom 20. April 2020 erklärte sie gegenüber der Beklagten den Rücktritt vom Lebensversicherungsvertrag und forderte diese zur Rückzahlung der geleisteten Prämien samt Zinsen auf. Die Beklagte lehnte die Forderungen der Klägerin ab.
Die Klägerin begehrt die Rückzahlung der gesamten von ihr bezahlten Prämien samt Zinsen. Die Beklagte wandte ein, bei einem Spätrücktritt nach Ablauf von fünf Jahren stehe gemäß der Neuregelung in § 176 Abs 1a VersVG nur der Rückkaufswert zu.
Gesetzeslage zum Zeitpunkt des Urteils
Auszug § 176 idgF (BGBL I 2018/51); anzuwenden auf alle Verträge, bei denen der Rücktritt nach dem 1.1.2019 erfolgte:
(1) Wird eine Kapitalversicherung für den Todesfall, die in der Art genommen ist, dass der Eintritt der Verpflichtung des Versicherers zur Zahlung des vereinbarten Kapitals gewiss ist, durch Rücktritt, Kündigung oder Anfechtung aufgehoben, so hat der Versicherer den auf die Versicherung entfallenden Rückkaufswert zu erstatten.
(1a) Sind nicht alle Voraussetzungen für den Beginn der Rücktrittsfrist gemäß § 5c Abs. 2 erfüllt, so gebührt dem Versicherungsnehmer bei einem Rücktritt von einer Kapitalversicherung
- innerhalb eines Jahres nach Vertragsabschluss die für das erste Jahr gezahlten Prämien;
- ab dem zweiten bis zum Ablauf des fünften Jahres nach Vertragsabschluss der Rückkaufswert ohne Berücksichtigung der tariflichen Abschlusskosten und des Abzugs gemäß § 176 Abs. 4. Trägt der Versicherungsnehmer das Veranlagungsrisiko, so kann der Versicherer allfällige bis zum Rücktritt eingetretene Veranlagungsverluste berücksichtigen.
Rechtliche Beurteilung
Aus § 176 Abs 1a iVm § 176 Abs 1 VersVG folgt, dass der Versicherungsnehmer bei einem Rücktritt von einer kapitalbildenden Lebensversicherung nach Ablauf von fünf Jahren ab Vertragsabschluss – wie hier – den Rückkaufswert erhält. Da der Gesetzgeber mit der letzten Novelle nur bei einem Spätrücktritt bis zum Ablauf des fünften Jahres nach Vertragsabschluss die Rechtsfolgen neu geregelt und für den darüberhinausgehenden Zeitraum keine neue Rechtsfolgenregelung geschaffen hat, ist auf den gegenständlichen Fall die bisherige Rechtsprechung anzuwenden.
Nach dieser Judikatur ist die Beschränkung auf den Rückkaufswert im Fall eines Rücktritts unzulässig, sodass auch § 176 Abs 1 VersVG idgF als unionsrechtswidrig zu qualifizieren ist, ohne dass es einer neuerlichen Befassung des EuGH bedürfe. Der Rücktritt der Klägerin löst daher im vorliegenden Fall nicht die Rechtsfolgen nach
§ 176 Abs 1 iVm Abs 3 bis Abs 5 VersVG aus (Anmerkung: Dazu hätte der Rücktritt innerhalb der ersten fünf Jahre erfolgen müssen), sondern führt zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung des Vertrags und damit zur
■ Rückzahlung der geleisteten Nettoprämie (abzüglich Versicherungssteuer und Prämien für Zusatzdeckungen);
■ Rückerstattung der Versicherungssteuer – aus dem Titel des Schadenersatzes;
■ Zinsen (zumindest) für die letzten 3 Jahre
Die Frage, ob auch die Neuregelung in § 176 Abs 1a VersVG als unionsrechtswidrig zu qualifizieren ist, stellt sich in diesem Urteil mangels Entscheidungsrelevanz nicht und steht auch gar nicht mehr zur Diskussion, weil mit Wirkung zum 1.8.2022 eine Novellierung des § 176 VersVG vorgenommen wurde:
1) Wird eine Kapitalversicherung für den Todesfall, die in der Art genommen ist, dass der Eintritt der Verpflichtung des Versicherers zur Zahlung des vereinbarten Kapitals gewiss ist, durch Rücktritt, Kündigung oder Anfechtung aufgehoben, so hat der Versicherer den auf die Versicherung entfallenden Rückkaufswert zu erstatten.
(1a) Abs. 1 ist bei einem Rücktritt nach § 5c nicht anzuwenden.
[…]
Konkret bedeutet diese Novelle, dass bei einem Spätrücktritt eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung vorzunehmen ist – egal, ob der Rücktritt vor oder nach dem 31.12.2018 erklärt wurde. Veranlagungsverluste einer fondsgebundenen Lebensversicherung sind bei berechtigten Spätrücktritten vom Versicherungsunternehmen zu tragen.